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Am Ende des Jahrhunderts könnte das Wasser einige Kilometer von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku entfernt liegen.

© picture-alliance/ dpa

Kaspisches Meer: Baku liegt wohl nur noch für wenige Jahrzehnte am Wasser

Das Kaspische Meer könnte bis zu einem Drittel seiner Fläche einbüßen, warnen Wissenschaftler. Die Gefahr ist der Bevölkerung noch gar nicht bewusst.

Den Vergleich mit der Croisette, dem berühmten Boulevard von Cannes, muss die Flaniermeile von Baku am Ufer des Kaspischen Meeres kaum scheuen. Öl und Gas haben die Kaukasusrepublik Aserbaidschan reich gemacht. Diesen Reichtum zeigt das Land, das von der Herrscherfamilie der Alijews ähnlich autoritär geführt wird wie die Ölmonarchien am Persischen Golf. Besonders sichtbar ist er an Bakus Prachtstraße mit ihren Luxushotels, den Juwelieren und teuren Boutiquen in den alten Häusern mit ihren prachtvoll restaurierten Stuckfassaden. Nur über die Straße und durch den schmalen Park muss man gehen, und man kann am Meer spazieren.

Doch anders als Cannes ist Baku wohl nur noch für wenige Jahrzehnte eine Stadt am Wasser. Schon die Enkel der heutigen Bewohner werden weit, wahrscheinlich ein paar Kilometer, bis zum Ufer laufen müssen. Das jedenfalls geht aus einer Modellrechnung hervor, die Matthias Prange von „Marum“, dem Zentrum für maritime Umweltwissenschaften der Universität Bremen, im Dezember veröffentlicht hat. Nach seinen Berechnungen wird der Spiegel des Kaspischen Meeres bis zum Ende des Jahrhunderts rasant um neun bis 18 Meter sinken. Das Kaspische Meer, das eigentlich ja der größte Binnensee der Erde ist, würde bis zu einem Drittel seiner heutigen Fläche einbüßen.

Besonders stark wird der Effekt im Norden des Kaspischen Meeres sein

Das Sinken des Meeresspiegels vollziehe sich sehr viel schneller, als in bisherigen Klimamodellen angenommen wurde, meint eine Gruppe von Bremer Wissenschaftlern, die die Situation in den Ländern der Region seit geraumer Zeit untersucht. Noch vor wenigen Jahren waren Experten davon ausgegangen, dass der Wasserspiegel sogar steige. Dass er schwankt, auch um mehrere Meter, ist seit alten Zeiten bekannt. Die letzte Periode mit jahrelang steigendem Wasserspiegel ist noch gar nicht so lange her.

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Die Bremer Wissenschaftler schlagen dennoch Alarm. Seit einigen Jahren ist durch die Erderwärmung das Gleichgewicht zwischen dem Zufluss aus der Wolga und der Verdunstung über dem abflusslosen See massiv gestört. Es verdunstet viel mehr Wasser, als der Fluss, aus dem 90 Prozent des Frischwassers stammen, zuliefern kann. Russische Wissenschaftler meinen, das müsse nicht so bleiben, die Erderwärmung habe auch einen anderen Effekt. Sie gehen davon aus, dass in den nächsten Jahren im europäischen Teil Russlands mehr Regen fällt und die Wolga mehr Wasser führt. Prange hat in seinem Modell die Prognose berücksichtigt und sagt: „Das wird nicht reichen.“ Nicht eingerechnet hat er sogar, dass die russische Landwirtschaft, die in den 90er Jahren am Boden lag, nach ihrer Stabilisierung in Zukunft mehr Wasser aus der Wolga brauchen wird.

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Baku komme bei einem Sinken des Pegels noch vergleichsweise gut weg, meint der Marum-Biologe Thomas Wilke. Besonders stark wird der Effekt in den flachen Brackwasserregionen im Norden des Kaspischen Meeres sein. Dort fallen nach den Berechnungen Zehntausende Quadratkilometer trocken. „Heute ist das ein einzigartiges Biotop, ein Labor für Evolutionsbiologen, mit vielen endemischen Arten, also Tieren, die nur hier vorkommen“, schwärmt Wilke. Die Kaspische Robbe ist nur die bekannteste von ihnen. „Die verlieren wir jetzt“, fürchtet er. Und mit ihnen wohl auch die Flamingo-Populationen. Auch für den Stör sieht es düster aus, selbst wenn er heute schon oftmals in Aquakultur gehalten wird.

Die Effekte einer Verlandung sind gut bekannt vom Verschwinden des Aralsees in Kasachstan. Milliarden wurden investiert, um wenigstens einen kleinen Rest zu retten – und doch sind die Folgen verheerend. Weite Flächen sind inzwischen Wüste, der Boden vergiftet vom Salz des Sees. Ackerbau ist da nicht möglich, die Menschen in der Region leiden vermehrt unter Atemwegserkrankungen. Auch am Kaspischen Meer selbst gibt es Erfahrungen. Im vergangenen Jahrhundert wurde die Lagune Kara Bogas Gol im Osten des Meeres mit einem Damm abgeriegelt, unter anderem um günstig Salz zu gewinnen. Sie verlandete innerhalb kürzester Zeit. Als auch hier die Salzstürme das Land verheerten, wurden mit großem Aufwand Röhren verlegt, um den „Nebensee“ wieder zu fluten. „Die Kara Bogas Gol wird rasch austrocknen, in wenigen Jahren“, sagt Prange.

Vor allem Kasachstan und Russland sind betroffen

Bisher ist die Gefahr der Bevölkerung und den Politikern in den betroffenen Ländern noch gar nicht bewusst, ist die Erfahrung, die Prange, Wilke und die Mitarbeiter ihres Teams bei ihren Reisen gemacht haben. „Woher soll es auch kommen. Die Menschen haben ihre traditionelle, von Generation zu Generation getragene Erfahrung: Der Meeresspiegel sinkt, dann steigt er auch wieder“, sagt Wilke. An der iranischen Küste würden die Bewohner sogar mit einem „Trauma des steigenden Pegels“ leben. Der führte in der Vergangenheit oft zu Überschwemmungen. „Mir scheint, dass Politiker in einigen der Länder noch die Vorstellung haben: Na, uns wird es schon nicht so hart treffen wie den Nachbarn“, sagt Wilke. Tatsächlich sind nach den Berechnungen vor allem Kasachstan und Russland betroffen.

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Die Bremer Wissenschaftler rufen dazu auf, ihre Daten jetzt durch die Arbeit internationaler Expertengruppen zu überprüfen und rasch zu reagieren. Doch die Aussichten sind nicht gut. Mehr als 20 Jahre Verhandlungen hat es gebraucht, bis sich die Anrainerstaaten vor zwei Jahren über eine Aufteilung des Kaspischen Meeres mit seinen heutigen Ufern zu einigten. Wenn nun der Wasserstand rasch sinkt, ist dieses Übereinkommen obsolet, was fast zwangsläufig zu neuen Interessenskonflikten führt, sind die Experten überzeugt. Wenn die Diplomaten jetzt noch einmal 20 Jahre brauchen, wird es zu spät sein.

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