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Beatle-Mania.

© REUTERS/MARIO ANZUONI

Ukrainisches Kriegstagebuch (178): Beatles-Songs, die Leben retten?

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

2.11.23

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Moment, in dem ein kurzes Schwarz-Weiß-Video mein Leben für immer veränderte. Ich war vierzehn Jahre alt, als ich durch einen glücklichen Zufall auf einen Ausschnitt aus „A Hard Day’s Night“ von The Beatles im Fernsehen stieß. Es war Liebe auf den ersten Blick. Spätestens nachdem ich meine erste Beatles-Platte, die mein Großvater mir am nächsten Tag besorgte, zu Ende gehört hatte, war mir klar, dass mein größter Wunsch im Leben war, solche Musik zu spielen.

Die Zeit des Umbruchs in meinem Heimatland in den 1990ern war äußerst turbulent. Mein Vater erhielt seit Monaten kein Gehalt mehr, meinen Großeltern ging es gesundheitlich nicht gut. Angesichts der schwierigen Lage beschlossen meine Eltern nach langem Zögern, auszuwandern. Im Oktober 1995 zogen wir schließlich nach Deutschland und landeten zunächst in einem Migrantenheim in Potsdam.

Plattenläden als Zufluchtsort

Die Anfangszeit war recht schwierig, ich fühlte mich einsam und vermisste meine Freunde, die alle in Charkiw geblieben waren. Zudem war die deutsche Sprache für mich noch völlig fremd. Meine einzige Zuflucht waren die Plattenläden – auch wenn ich mir nicht viel leisten konnte, verbrachte ich dort Stunden. 

Am 20. November 1995 wurde ein neuer Beatles-Song veröffentlicht, der erste seit einem Vierteljahrhundert. Ich und einige andere Beatles-Fans, die bereits vor der Eröffnung zum City Music Shop in der Brandenburger Straße kamen, wurden sogar von einem Reporter der Märkischen Allgemeinen interviewt. Anschließend kehrte ich nach Hause zurück und genoss „Free as a Bird“ eine Stunde lang in Dauerschleife. 

Es war ein erhebendes, sehr intensives Gefühl, in einer Welt zu leben, in der ein neuer Song der Beatles den Menschen etwas bedeutete, in der sie aufmerksam zuhörten und die Zeitungen darüber berichteten. 

Ich blieb in Deutschland und zog 1996 nach Berlin. Vor neunzehn Jahren wurde hier mein Sohn geboren. Auch Boris mag die Beatles und kennt einige ihrer Lieder auswendig, jedoch träumt er in seinem Alter nicht davon, Musiker zu werden.

Ich bin mir unsicher, ob er meine Aufregung spürt, als ich ihm über WhatsApp mitteile, dass heute, 28 Jahre nach „Free As A Bird“, ein neuer Beatles-Song veröffentlicht wird. Er antwortet nur mit einem knappen „Echt?“.

Eine halbe Stunde später ruft Boris an. Möchte er mit mir über den Song sprechen, den er möglicherweise bereits gehört hat? Doch der Grund für seinen Anruf ist ein anderer. „Etwas sehr Unangenehmes ist mir gerade passiert“, erklärt er. „Ich war in der U-Bahn auf dem Weg zur Uni, als eine Frau einstieg und plötzlich anfing, laut zu schreien. Sie begann mit ‘Free Palestine’ und behauptete, dass das Leben der Palästinenser nicht weniger wert sei als das der Ukrainer. Dann meinte sie, dass russen und Ukrainer Brudervölker seien und dass an allen Kriegen Amerika schuld sei. Ich versuchte mit ihr zu diskutieren, aber dann stellte sie sich direkt vor mich und beschimpfte mich als blödes arrogantes rich kid. Niemand könne sie daran hindern, die Wahrheit zu verbreiten, brüllte sie mir ins Ohr. Als ich aus der Bahn ausstieg, begleitete sie mich und schrie einfach weiter. Ich fürchtete schon, dass sie mich auf die Gleise stoßen würde.“ 

Mein Handy, das auf dem Küchentisch zum vierten Mal “Now and Then” von den Beatles abspielt, vibriert wieder. Es ist Tasia, eine alte Freundin, die wie ich in den frühen Neunzigern aus Charkiw emigrierte. Sie lebt in Tel Aviv, wir sind in den letzten Wochen oft in Kontakt. Im September war sie mit ihrem Partner in Berlin zu Besuch, wir haben lange über unsere gemeinsamen ukrainischen Freunde geredet, manche von ihnen kämpfen seit Monaten an der Front.

Tasias Sohn ist einige Jahre älter als Boris und arbeitet in den angesagten Tel Aviver Klubs als Bartender. Einige seiner Freunde wurden fürs Supernova Music Festival gebucht. “Eine Bartenderin, mit der Ori oft zusammengearbeitet hat, ist tot. Auch ein Promoter, den er gut kannte und der aus dem gleichen Club stammte, ist ums Leben gekommen. 23 und 24 Jahre alt, sie waren im gleichen Auto.”

Zu viele Kriege

Während ich meinen Kaffee trinke, grüble ich über die Welt nach, die wir unseren Kindern hinterlassen werden. Eine Welt, in der Kriege wüten und Menschen aufgrund ihrer falschen Nationalität getötet werden. Ein neuer Beatles-Song wird sie wahrscheinlich nicht retten... oder vielleicht doch?

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