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Der israelische Premier Benjamin Netanjahu bei seinem Besuch in Berlin im März neben Bundeskanzler Olaf Scholz

© Imago/Chris Emil Janßen

Historische Krise in Israel: Der Bundeskanzler muss endlich sein Schweigen brechen

Die sogenannte Justizreform spaltet das Land, aber die Regierung Netanjahu will nicht davon ablassen. Sie gefährdet die Demokratie. Das darf kein Freund des Staates der Juden zulassen.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Was kann da jetzt noch kommen? Die Proteste, die Vermittlungsversuche in letzter Minute, die öffentliche Bitte des Mossad-Chefs – Israels Premier Benjamin Netanjahu und seine ultrareligiöse, ultranationale Koalition haben es trotzdem getan. Der erste Teil der sogenannten Justizreform ist in der Knesset, dem Parlament, verabschiedet. Die Justiz wird verstümmelt.

Zur Erinnerung: Mit dem neuen Gesetz ist es dem Obersten Gericht Israels nicht mehr möglich, eine Entscheidung der Regierung oder einzelner Minister als „unangemessen“ zu bewerten und für ungültig zu erklären. Selbst wenn Gesetze gegen Grundrechte verstoßen oder ausschließlich im Interesse einiger Regierungsmitglieder sind. Zahlreiche Experten im In- und Ausland befürchten, dass damit der Korruption und der willkürlichen Besetzung (oder Entlassung) auf wichtigen Posten Tür und Tor geöffnet ist. Es dürfen damit auch straffällige Minister ernannt werden.

Und der Premier ist erpressbar von seinen Koalitionären. Netanjahu steht wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht, muss bei einer Verurteilung mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Mit dem Gesetz wird das höchste Gericht ja auch in seinem Fall ausgeschaltet.

Die Hoffnung, dass sich alles jetzt doch noch zum Besseren fügen wird, schwindet, beinahe von Tag zu Tag. Eile ist geboten. Man stelle sich das vor: Die Opposition klagt vor dem höchsten Gericht, das erklärt das Gesetz für ungültig, die Regierung bestreitet die Rechtsgrundlage – und Soldatinnen und Soldaten, Geheimdienste, Richter:innen müssen entscheiden, wem sie folgen, der Regierung oder dem Gericht? Das wäre endgültig die Staatskrise.

Diese Krise abzuwenden, ist Aufgabe der Israelis – und der Freunde Israels. Viele schauen auf die USA, immer mehr auch auf Deutschland. Nur bleibt die Bundesregierung so leise. Ein Fehler in dieser historischen Situation.

Dass Berlin besorgt ist über die angespannte Lage, kann man wohl laut sagen. Dass es zum Dialog zwischen Regierung und Opposition aufruft, ist ein Ausdruck dessen. Das reicht aber nicht.

Jetzt ist es Zeit für Offenheit unter Freunden

Öffentliche Zurückhaltung der Deutschen ist wegen der Vergangenheit verständlich, Offenheit unter Freunden wegen Israels Zukunft ist es allerdings auch. Gerade aus tiefer Verbundenheit. Nötig ist darum jetzt eine klare Stellungnahme für die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung als Signum der Demokratie – vom Bundeskanzler. Schweigen hilft nicht weiter.

Die Chance liegt vorerst in deutlicher Ermutigung. Demokratie ist, wenn man sie praktiziert. Eine – leise – Idee findet sich im Vorschlag Berlins für eine „breite gesellschaftliche Debatte“ mit Zeit und Raum für neuen Konsens. Diese Debatte könnte dann doch vielleicht münden in eine verfassunggebende Versammlung, um von allen Seiten die erste geschriebene zusammenzutragen. Und ist es Netanjahu ernst, kann er Kompromisswillen dokumentieren.

In Verfassungsfragen hat Deutschland Erfahrung, vom Konvent in Herrenchiemsee 1948 bis heute. Die Verfassung muss nur nicht so lang sein, eher wie die der USA konzentriert aufs Wesentliche. So bliebe dem Höchsten Gericht Israels die Hüterfunktion.

Die Chancen stehen schlecht? Fänden heute Wahlen in Israel statt, wäre eine Mitte-Links-Regierung möglich. Eine neue Knesset würde dann aufs Neue abstimmen. Mehr als zwei Drittel der Israelis lehnen in Umfragen die Reform ab, darunter auch Wähler Netanjahus.

Dem Premier muss daher ultimativ klargemacht werden, dass er nicht um seiner selbst willen größte Schuld auf sich laden darf. Noch dazu, welch bittere Ironie, in einer ultranationalen Koalition, für die der Staat Israel eine hochreligiöse Bedeutung hat, ja eine Verheißung ist, Jahwes Werk. Das darf keiner zerstören, der an ihn glaubt.

Außerdem muss dann aber immer noch verhindert werden, dass die Gesellschaft sich tiefer und tiefer in Religiös-Nationale und Säkular-Liberale spaltet. Sonst droht eine Implosion des Staates. Wenn das so weitergeht, ist es das Ende des Israel, wie wir es kennen. Da muss jetzt dringend etwas Neues kommen, Aufrüttelndes, Hilfreiches. Auch vom Kanzler.

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