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Landeshauptstadt: Kartoffelpuffer mit Vogelmiere

Das Potsdam-Museum will an 1945 erinnern – mit Alltags-Utensilien, die oft beim Überleben halfen

Das Potsdam-Museum will an 1945 erinnern – mit Alltags-Utensilien, die oft beim Überleben halfen Von Guido Berg „Elbe überquert. USA-Panzer 120 Km vor Berlin“ lautet die Schlagzeile der Alliierten-Flugblattzeitung „Nachrichten für die Truppe“ Nr. 362 vom 13. April 1945. Tags darauf wird sie aus Flugzeugen abgeworfen – zusammen mit den Bomben, die das Stadtschloss und die Garnisonkirche schwer beschädigen und laut dem Lokalhistoriker Hans-Werner Mihan („Die Nacht von Potsdam“) 1593 Bombentote sowie etwa 200 Vermisste fordern. Bittere Ironie: Das Flugblatt enthält eine Meldung, in der dem Potsdamer Kirchenmusikdirektor Otto Becker zum 75. Geburtstag gratuliert wird. Dieser betreut das berühmte Glockenspiel der Garnisonkirche, das bei dem Bombenangriff zerstört wurde. Der damals 15-jährige Nachrichtenhelfer Horst Goltz hat Exemplare dieser Flugblätter eingesammelt und für die Nachwelt aufbewahrt. Seine Dokumente, Tagebuch-Aufzeichnungen sowie die gesammelten Alltagsgegenstände vieler weitere Potsdamer, die sie aus dem Schicksalsjahr 1945 aufbewahrt haben, werden Exponate der Ausstellung „Tag um Tag – Potsdam 1945“ des Potsdam-Museums sein. „Es war ein traumatisches Jahr für Potsdam“, erklärte gestern Museums-Kuratorin Edeltraud Volkmann-Block bei der Vorstellung des Projekts. „Tag um Tag“ soll es nachgezeichnet werden, denn Tag um Tag hatten die Potsdamer vor 60 Jahren um ihr Überleben zu kämpfen, umriss Museums-Mitarbeiter Hannes Wittenberg das Konzept. So entstehe ein „Potsdamer Tagebuch“ des Jahres 1945. Kuratorin Volkmann -Block: „Jeden Tag versuchen wir mit einem Ausstellungsstück zu dokumentieren“. Zudem soll so das Leben der Potsdamer in den Ruinen und Baracken nach Kriegsende veranschaulicht werden. Im Hof des Ausstellungsortes Benkertstraße 3 wird eine originale zu jener Zeit für Luftkriegsopfer errichtete Baracke aufgestellt. Vor zwei Jahren war sie durch das Potsdam-Museum aus der Gutenbergstraße geborgen worden, berichtet Wittenberg. Zur Eröffnung am 23.März wird ein Kartoffelbeet angelegt und zum Ausstellungsende am 4. September abgeerntet. Schulklassen pflegen das Beet auf dem Hof das Jahr über. Hintergrund: In der schlechten Zeit herrschte Hungersnot, sogar auf dem Platz der Einheit bauten die Potsdamer Kartoffeln an. 78 sehr persönliche Gegenstände aus dem Jahr 1945 haben Potsdamer einen Aufruf folgend bislang für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Beispielsweise „Ernährungshilfen“ – Kochbücher, die sich etwa dem Thema „Wildgemüse als Zusatznahrung“ stellen und „Kartoffelpuffer mit Vogelmiere“ empfehlen. Weitere Vitaminträger vom Wegesrand: Brennnesseln, Breitvegerich, Huflattich, Melde oder Geitzfuß. Ein anderer Ratgeber versucht „zeitgemäße Brotaufstriche“ schmackhaft zu machen. Not macht erfinderisch: Aus Fallschirmstoffen fertigten die Potsdamer Kleider. Ein Leitfaden für den Handarbeitsunterricht in der Schule legt zur Frage „Wie spare ich Geld und Punkte?“ nahe: „Bessere Kleider möglichst unsichtbar aus“. Unbedingt sehenswert ist das Puppenstubenmobiliar, dass ein Vater seiner Tochter bastelte – der im Bauhausstil gefertigte kleine Stahlrohrstuhl sieht aus, als stamme er von Mies van der Rohe, begeistert sich Wittenberg. Kleine Spielzeug-Kampfflugzeuge wurden erst jüngst in einem zugeschütteten Bombentrichter entdeckt – dorthin versenkten die Leute beim Herannahen der Roten Armee ab 26. April 1945 Vieles, was sie in den Augen der russischen Soldaten hätte kompromittieren können. Ein von „Dr. med. H. Goerke“ ausgestellter Schein für die Typhus-Schutzimpfung warnt „Bei Nichterscheinen zur Schutzimpfung erfolgt die Entziehung der Lebensmittelkarten“. Echte Lebensmittelkarten sind laut Kuratorin Volkmann-Block noch nicht abgegeben worden – was auch wenig verwundert, denn die wurden damals dringend zum Überleben gebraucht. Vorhanden sind dagegen Muster mit der Aufschrift „Brot“ oder „Fett“ aus der Druckerei Rüss in der Lindenstraße. Ein russisches Alphabet versucht den Potsdamern damals das kyrillische Alphabet zu erklären. Was wenige noch wissen: Nach der Besetzung der Stadt und bis zum Oktober 1945 galt in Potsdam die Moskauer Zeit – dass heißt Mitteleuropäische Zeit plus zwei Stunden, informiert die Kuratorin. Wenn es auf Schloss Charlottenhof im amerikanischen Sektor in Berlin-West 18Uhr war, zeigten die Uhren auf Schloss Sanssouci 20 Uhr. Das Potsdam-Museum benötigt weitere Exponate, die von Potsdamer bewahrt wurden. Etwa ein so genanntes „Hindenburg-Licht“ – eine Pappschale mit einer Wachskerze, verwendet in Luftschutzkellern. Es fehlen auch Materialien zu Neulehrern von 1945, Einberufungsbefehle des Jahrgangs 1929 – von Soldaten, die als 16-Jährige eingezogen wurden, zudem Kleider, umgenäht aus Militärmänteln, Ersatzseife, Ersatzlebensmittel, Arbeitsbescheinigungen oder auch Papiere neugegründeter Parteien.

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