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Kultur: Kaum Antworten, nur Fragen

Ines Geipel zur Premiere „Für heute reicht’s – Amok in Erfurt“

Ines Geipel zur Premiere „Für heute reicht’s – Amok in Erfurt“ Mit zwei aktuellen Meldungen eröffnete Ines Geipel am Donnerstagabend die Premiere ihres Buches „Für heute reicht’s – Amok in Erfurt“. Die eine: Das Thüringer Justizministerium wird die Vorgänge um die Mordserie des 19-jährigen Robert Steinhäuser, der im April 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium zuerst 16 Menschen und anschließend sich selbst tötete, neu untersuchen. Die zweite: Am Erfurter Heinrich-Mann-Gymnasium wurde ein Graffiti entdeckt, das vor einem „zweiten Erfurt“ warnt und den autoritären Stil des Direktors, als „King B.“ bezeichnet, anprangert. Eine weitere Meldung hätte hinzugefügt werden können: Am Dienstag erschoss in Den Haag ein 17-jähriger Schüler den stellvertretenden Direktor der Schule, von der er kürzlich beurlaubt wurde. Der Raum in der Landeszentrale für Politischen Bildung war bis auf den letzten Platz gefüllt, im Gang und auf dem Flur standen weitere Zuhörer. Ein Zuspruch, der Ines Geipel überraschte. Der aber zeigte, dass Erfurt gut 20 Monate danach nicht nur für sie zu viele Fragen offen gelassen hat. Der 26. April 2002, ein Freitag. Der Tag, an dem Robert Steinhäuser Erfurt für immer aus seine gelebten Beschaulichkeit riss. Um 10.58 Uhr gab er seinen ersten Schuss ab und tötete damit die Schulsekretärin im Gutenberg-Gymnasium. Um 11.17 Uhr schoss er zum letzten Mal. Mit der 71. verschossenen Patrone richtete er sich selbst. Ines Geipel, Autorin und Dozentin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, kam nach diesem 26. April in ihren Seminaren mit Studenten ins Gespräch, die am Gutenberg-Gymnasium ihr Abitur gemacht hatten. Manche von ihnen kannten Robert Steinhäuser persönlich. „Sie stellten andere Fragen, als ich sie gestellt hätte.“ Fragen, denen sie dann nachging. Gut ein Jahr hat sie in Erfurt recherchiert. Was sie zusammengetragen hat, das hat sie in „Für heute reicht’s – Amok in Erfurt“ verarbeitet. Ein „literarisches Sachbuch“, wie sie es bezeichnet, in der die fiktive Person Elsa nach Erklärungen sucht. Mit der Figur der Elsa habe sie ein Gegenstück zu den harten Fakten schaffen wollen. Ein Raum, der dem Leser eine Distanz zu dem oftmals Unerträglichen der Ereignisse eröffne. „Ich wollte ein Buch schreiben, das aus Fragen besteht, Widersprüche aufdeckt“, erklärte sie. Und Widersprüche und offene Fragen scheint es im Fall Erfurt mehr als genug zu geben. Die Theorie vom zweiten Täter, der widerrechtliche Schulverweis von Robert Steinhäuser durch die Direktorin Christiane Alt, ein angeblicher Warnanruf zwei Tage vor der Tat, die zögerliche Taktik einer konfusen Einsatzleitung, die erst Stunden nach den Morden das Schulgebäude gesichert hatte, fehlende Protokolle der Notärzte. Gerüchte und Fakten, die den vorläufigen Abschlussbericht der Untersuchungen, der zum Ergebnis kam, dass keine Fehler gemacht wurden, mehr als fragwürdig erscheinen lassen. Ines Geipel hat mit Angehörigen der Opfer, mit Schülern, Lehrern, Ärzten und Polizisten gesprochen. Sie hat die Vernehmungsakten gelesen und sich der Stadt Erfurt genähert, um zu verstehen. Doch oft verschwimmen in ihrem Buch Gerüchte und Fakten. Und auch im Gespräch mit Hendrik Röder vom Brandenburgischen Literaturbüro und dem Bildungsminister Steffen Reiche (SPD), blieb sie bei bestimmten Fragen, wie nach dem angeblichen Warnanruf, zurückhaltend und ausweichend. Sie sei Schriftstellerin, die Fragen aufwerfe, keine Kriminologin, der Antworten liefere. Eine vielleicht doch zu einfache Erklärung. Deutsche mit 25 Mio Schusswaffen An der Wirkung ihres Buches wird dies kaum etwas ändern. Es schreckt auf, wenn man liest, dass in Deutschland 25 Millionen Schusswaffen in Privatbesitz sind. Dass jährlich eine Million neue hinzu kommen. Genauso viel wie in den USA. Man muss sich eingestehen, wie schnell man medial verbreitete Standarderklärungen wie die des Einzeltäters akzeptiert, um so das Unbegreifbare begreifbar zu machen und für sich abzuhaken. Es wird, so bleibt zu hoffen, zu Diskussionen über das Schulsystem, über das Verhältnis von Lehrern, Schülern und Eltern führen. Denn diese Auseinandersetzungen, so zeigte die kurze, aber manchmal heftige Diskussion mit dem Publikum, scheint mehr als notwendig. Der von den Politikern damals signalisierten Handlungsbereitschaft sind kaum Taten gefolgt. Immer noch herrsche an Schulen in Erfurt ein bedenklicher Führungsstil, der schon Jahre vor Steinhäusers Tat von Schülern kritisiert wurde. Doch nicht nur ein spezifisch thüringisches Problem, wie Redebeiträge von Lehrern aus Potsdam zeigten. Ines Geipel hat mit ihrem Buch, eher unbewusst, einen blank liegenden Nerv getroffen, den zu viele noch immer ignorieren. Dass auch durch dieses Buch wieder Bewegung in die Sache kommt, erfreue sie sehr. Doch sie bleibt zurückhaltend. Allzu oft haben sich derartige Ankündigungen nur als reine Lippenbekenntnisse erwiesen. Dirk Becker

Dirk Becker

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