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Kultur: Musik des Abschieds im Thalia „Populärmusik aus Vittula“ mit Reza Bagher

Erstaufführungslichtspieltheater, wie früher, als noch keine digitale Allgegenwärtigkeit und virtuelle Gleichzeitigkeit herrschte. Das Foyer des Thalia Kinos in Babelsberg an einem Samstagabend scheint zu klein.

Erstaufführungslichtspieltheater, wie früher, als noch keine digitale Allgegenwärtigkeit und virtuelle Gleichzeitigkeit herrschte. Das Foyer des Thalia Kinos in Babelsberg an einem Samstagabend scheint zu klein. Schlangen an der Kasse und am Tacochipsstand. Die Allermeisten davon werden im großen Saal gleich Andreas Dresens „Sommer vom Balkon“ sehen. Ausverkauft. Vor kurzem feierte der Potsdamer Regisseur seine Premiere mit vielen Freunden – hier im Thalia. Auch „Dark Horse“, eine skurrile dänische Komödie, wurde letzte Woche hier zum ersten Mal gezeigt. Es scheint, als könne Potsdam klammheimlich mit Filmpremieren sogar die große Schwesternstadt ausstechen. Das Thalia profitiert davon, dass Regisseure, die eigentlich in der Bundeshauptstadt eingeladen sind, nichts dagegen haben, gleich auch in Potsdam eine Premiere zu besuchen. Und das meist sogar vor der Berliner Aufführung.

Auch Reza Baghers Literaturverfilmung „Populärmusik aus Vittula“ schenkte am Samstag dem Cineasten dieses selten gewordene Gefühl der Exklusivität, denn der offizielle Bundesstart der schwedisch-finnischen Gemeinschaftsproduktion ist erst am 19. Januar. Neben diesem unbeschreiblichen Kribbelgefühl, einfach dazu zu gehören, hat eine Vorpremiere auch den Vorteil, eine Meinungsbildung ohne Vorbelastung durch die offizielle, oft merkwürdig gleichgeschaltet-wohlwollende Filmkritikschreibung zuzulassen.

Von den Zuschauern im Kino 2 wurde Baghers Kindheits- und Jugenderzählung aus dem schwedischen Pajala sehr freundlich aufgenommen. Als Musiklehrer Greger sein ungleiches Duell „Rennrad gegen Schulbus“ im letzten Moment doch noch gewann und den Helden dadurch ihre E-Gitarren verschaffte, gab es sogar heiteren Szenenapplaus. Viele Skandinavienfreunde waren gekommen. Kälte, Dunkelheit und verschrobene Typen mit dem Hang zum Alkoholmissbrauch sind die Zutaten, die das Erfolgsgeheimnis des nordischen Komödienbooms ausmachen. Sie hat auch Bagher bei „Populärmusik“, seinem dritten Spielfilm, geschickt eingesetzt. Der mit 17 aus Persien nach Schweden gekommene Filmemacher hatte mit Mikael Niemis Romanvorlage eine schwere Bürde zu schultern. Die Kindheits- und Jugenderinnerungen aus dem schwedisch-finnischen Grenzgebiet im hohen Norden ist zum Millionen Mal verkauften Kultbuch avanciert. Mit dem Erfolg seines Films sei er nun „ganz zufrieden“, sagt der Regisseur. Eine bescheidene Haltung, denn auch Baghers Film kommt in seiner Heimat sehr gut an.

In Deutschland war Niemis Buch längst nicht so ein Überraschungserfolg. Vielleicht lag das an einer recht mäßigen Übersetzung. Oder uns in Zentraleuropa ist die nordschwedische Befindlichkeit zwischen Lappen, Elchen, Finnen und Moskitos zu fremd. Immerhin hoben doch zehn Premierengäste die Hand, als im Kino gefragt wurde, wer Niemis Geschichte gelesen hatte.

Pajala, die Stadt jenseits des Polarkreises, nur 20 km von Finnland entfernt, ist in Schweden nun berühmt. Eine Frage aus dem Publikum lautete, wie denn ein Exil-Iraner über einen ihm unbekannten Ort einen so intimen Film drehen könne. Zum einen verdanke er das zu allererst seiner Frau Maria. Mit charmantem Lächeln blickte der Regisseur zu ihr in die Rang. Sie stamme aus Nordschweden und war stets sein Ratgeber. Außerdem hätte er in Pajala das letzte Drittel des Drehbuchs geschrieben. Dort habe er auch die Einwohner kennen gelernt, von denen einige als Laiendarsteller im Film zu sehen sind. „Sie bringen unter die Profi-Schauspieler so eine Spannung hinein“, sagte Bagher.

Zudem wüsste er, der selbst seine Heimat früh verließ, um das Gefühl des Weggehens – ein universelles Thema von „Populärmusik aus Vittula“. Denn die beiden Freunde Matti und Niila werden durch ihre erste Schallplatte, Chuck Berrys „Rock“n Roll Music“, vom Virus der neuen Zeit angesteckt. Über all den fantastischen Begegnungen und schrillen Charakteren liegt immer die Musik des Abschieds. Niila, mit dem Matti einst sogar Popel geteilt hatte, wird später einmal nach London gehen und seine Karriere als Gitarrist mit einem frühen Tod bezahlen. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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